Porträit von Inga zum Thema Kultur und Inklusion

Mein Name ist Inga Laas und ich bin 38 Jahre alt. Ich identifiziere mich als weisse Cis-Frau mit Behinderung und bin Mutter von vier Kindern.

Ich bin in Deutschland geboren und mit einer starken Einschränkung meines Gehörs auf die Welt gekommen. Mein Gehör beginnt quasi dort, wo es bei Hörenden schmerzt – irgendwo um die 120 dzB.

Obwohl ich aus medizinischer Sicht «die Kandidatin» für ein Cochlear Implantat (im Prinzip eine Gehörprothese) bin, haben meine Eltern sich für Hörgeräte entschieden.

Ich bin ihnen dafür dankbar, weil ich so selber entscheiden konnte, was für mich das Richtige ist. Das bedeutet nicht, dass es einfacher war: Audismus und viel Sprachtraininq, was ein Stück weit auch mit Anpassung an eine Norm zu tun hat. Wer sich selbst nicht hören kann, spricht nur unter grosser Anstrengung und mit viel Übung. Das prägt Dich, wenn Du einen Hyperfokus auf Deine Aussprache erlebst, und gleichzeitig nie die volle Teilhabe erreichst, da Du auch durch eine perfekte Aussprache Dein unvollständiges Gehör nie ausgleichen kannst. Als schwerhöriger Mensch gehört man nirgend so richtig dazu: Man hört zu gut, um für sich einen Anspruch auf eine Kommunikation ausschliesslich in Gebärdensprache zu bestehen (als Kind kennst Du das Privileg der Gebärdensprache unter Umständen gar nicht, wenn Deine Eltern hörend sind) aber man hört auch zu wenig um am Leben der Hörenden gleichberechtigt teilhaben zu können. Dieses «zwischen den Welten unterwegs zu sein», prägt mich bis heute.

Ich bin die Einzige in meiner Familie mit einer Behinderung und war es auch in der Schulzeit. Als Kind gehst Du spielerisch mit Deiner Behinderung um, und ich hatte das Glück in einem überschaubaren Umfeld aufzuwachsen, in dem jeder jeden kannte und Kinder Banden bildeten. Wie frei und idyllisch das war, erstaunt mich noch heute.

Der Wechsel auf das reguläre Gymnasium hat mich knallhart mit der Realität konfrontiert. Auf einmal waren überall Barrieren: Im Schulbus, im Unterricht, im Sport, im Sozialen Umfeld und auch in der Sprache. Das geschriebene Wort war und ist für mich der Schlüssel zur Welt. Da waren zB. auf einmal Fremdsprachen, die man nicht so spricht, wie man sie schreibt. Alles wurde anstrengend und ich war schon als Kind immer so unglaublich müde und oft erschöpft. Gerettet haben mich ein enger Freundeskreis und eine sehr coole Deutschlehrerin.

Mit ihr habe ich nicht nur Freude und Bestätigung in der Literatur gefunden, sondern auch das erste Mal erlebt, was es bedeutet, eine Theatervorführung nicht nur anzuschauen, sondern auch zu verstehen. Bis anhin bin ich in Filme oder Theater ohne Übersetzung in Untertitel oder Gebärdensprache gegangen. Es war für mich völlig selbstverständlich, mich ausschliesslich visuell zu orientieren. Meine Deutschlehrerin bewirkte, dass der Darsteller ein Mikrofon mit Direktverbindung zu meinen Hörgeräten angezogen hat. Dadurch dass ich natürlich in der ersten Reihe sass, die Lippen sehen konnte und den Ton verstärkt hatte, bekam ich (fast) alles mit. Das war nicht perfekt und so wenig Aufwand und so simpel, dass man dafür eigentlich niemanden abfeiern kann. Ich hab es trotzdem getan. Ich musste weinen, weil ich so ergriffen war. Für mich war das ein Schlüsselmoment, der meine erst späte Emanzipation ausgelöst hat.

Ich bin schliesslich auf ein Internat für Gehörlose und Schwerhörige gewechselt, um dort ein Abitur zu absolvieren, das meiner tatsächlichen Leistung entspricht. Ich wollte nicht mehr von meinem Umfeld gebremst und behindert werden. Ich wollte meine effektive Leistung oder auch nicht-Leistung zeigen. Dort bin ich auch zum ersten Mal richtig mit Gebärdensprache in Kontakt gekommen. Mein damaliger Freund war CODA und alle in meinem Umfeld haben gebärdet. Ich hatte ziemlich grosse Hoffnungen in diesen Schritt gelegt. Nach nur 1.5 Jahren habe ich für mich entschieden, dass ich wieder zurück möchte ins reguläre System, auch wenn es anstrengend war und die Inklusion auf meinem Rücken ausgetragen wurde – Die Separation der «Sonderschule für Gehörlose und Schwerhörige» war mir aber zu krass. Rückblickend kann ich sagen, dass ich das System dieser Schule ableistisch fand und nicht einverstanden damit war, mit welcher Haltung man auf schwerhörige und gehörlose Schüler*innen zugegangen ist. Danach habe ich mich lange Zeit wieder voll an der hörenden Welt orientiert.

Zwar mit mehr Selbstbewusstsein für meine Position, aber eben auch angepasst. Ich habe mein Abitur erreicht (war o.k.), und zuerst ein Studium als Online-Redakteurin abgeschlossen (war auch o.k.).

Danach war ich immer noch hungrig nach mehr, und habe in der Schweiz den Bachelor in Umwelt-Ingenieurwesen gemacht. Hier bin ich schliesslich wieder in Kontakt mit Gebärdensprache und meiner eigenen Behinderung bekommen. Irgendwann bin ich beim Zürcher Theater Spektakel gelandet und habe dort die deskriptive Untertitel mitentwickelt und ans Theater gebracht. Das war ein wichtiger Schritt, der jetzt hoffentlich ohne mich weiter geführt wird. Danach war ich an der Gessnerallee tätig, auf allen Ebenen die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderung zu entwickeln und auszubauen. Ich habe wahnsinnig viel gelernt und eines der Wichtigsten Erkenntnisse ist für mich, dass jede Behinderung so einzigartig ist, wie der Mensch dahinter auch. Die klassischen Barrieren abzubauen ist daher nur die Basis dessen was wir brauchen, aber echte Teilhabe geht viel weiter.

Im Dezember 22 konnte ich beim Migros-Kulturprozent das Netzwerkprojekt IntegrART übernehmen. IntegrART funktioniert als Tournee inklusiver Companien, die alle zwei Jahre durch die Schweiz geht. Aktuell bin ich dabei das Projekt neu auszurichten und wünsche mir, neben der Tournee, die disability arts als selbstverständlichen Teil der regulären Schweizer Programmation etablieren zu können und mich mit den Mitteln von IntegrART für eine Kulturszene mit echter Teilhabe einzusetzen. Es gefällt mir sehr gut, eine Leitungsposition mit Verantwortung zu haben und ich empfinde es als Privileg – dabei sollte es keines sein, oder zumindest eines, dass man teilen kann. Ich wünsche mir daher mehr Menschen mit der Perspektive einer Behinderung in meinem Arbeitsumfeld. Meine «Needings», von der üblichen Kommunikation auf eine Slow-Kommunikation umzustellen werden von meinen Kolleg*innen sehr gut aufgenommen. Es sind kleine Dinge mit grosser Wirkung: Keine Anrufe, keine langen Meetings, Videocalls als sekundäre Lösung und wenn, dann mit Untertiteln. Immer in Sichtkontakt beim Sprechen (auch wenn ich nicht gemeint bin), immer Hochdeutsch und bei Bedarf eine Dolmetscher*in und wichtig: die leider unsichtbaren Belastungsgrenzen respektieren. Das ist sehr schön zu sehen, wie gut das funktionieren kann. Was mich beschäftigt ist der schmale Grat, auf dem Du balancierst, wenn Du aufgrund Deiner Perspektive als Mensch mit Behinderung einen wichtigen Job übernimmst. Einerseits braucht es genau diese Perspektive, andererseits ist es mein persönliches Ziel irgendwann in einem anderen Bereich als Inklusion in einer Leitungsposition tätig zu sein.  
Als weitere grosse Herausforderung sehe ich einerseits die Unsichtbarkeiten, wie zum Beispiel die oben erwähnte Belastungsgrenze, andererseits aber auch dass meine Arbeit auf Kommunikation und Bündnissen beruht. Kommunikation ist aber gerade das, was mir schwer fällt und woran ich immer wieder scheiter. Ich habe nie gelernt Smalltalk zu führen. Es ist mir auch nie so richtig klar geworden, worüber Hörende Menschen sich die ganze Zeit unterhalten. Immer wird geplaudert, man scheint sich unglaublich viel zu sagen zu haben, aber was sind die Themen? Wie macht man das? Bei mir geht es deswegen schnell ans «Eingemachte» im Gespräch, oder ich ertappe mich dabei, wie ich den Hauptanteil im Gespräch übernehme – Um etwas zu erzählen, musst Du nicht unbedingt alle verstehen. Manchmal ist das cool, manchmal ist das auch nur peinlich. Da muss ich immer wieder gegen meine tiefe Intuition «allein bin ich mir selbst am nächsten» ankämpfen und mich exponieren. Sich zu exponieren ist überhaupt etwas, mit dem Menschen mit Behinderung sehr häufig konfrontiert sind, denn sobald Du für Deine Bedürfnisse einstehst, exponierst Du Dich. Selten bekommst Du, was Du brauchst, ohne es erklären zu müssen.

Ich träume von einer Welt, in der wir alle weicher miteinander sind. Eine Offenheit und Toleranz für das, was eine Behinderung effektiv mit sich bringt und all ihre Unterschiedlichkeiten ist der erste Schritt für einen Dialog ohne Berührungsängste. Verständnisvoller und trotzdem leistungsfähig – jede und jeder auf seine Art und Weise

Foto von Inga